Zensierte Post

Geli aus Berlin
Verschickungsheim: Ev. Konsul-Albert-Heim,

Zeitraum (Jahr): 1966
Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: beides

Guten Tag, ich bin erstmals hier und beschreibe meinen Leidensweg: 1966 wurde ich mit 6 Jahren bei der Berliner Bahnhofsmission zum Sammeltransport in den Harz nach Bad Sachsa abgegeben. Ich war fünf Wochen dort und hatte furchtbares Heimweh und viel Angst, weil mir alles so anders schein als mein bis dahin erfahrenes Kinderleben. Ich war ein gesundes, fröhliches kleines Mädchen, dass gerade ein paar Monate gern in die Schule ging, schon lesen und etwas schreiben konnte. Meine Eltern lernten im Urlaub eine kinderlose Witwe näher kennen, die die sogenannten “Kindertransporte” begleitete und ihnen dieses günstige Angebot vorstellte. Großstadt, zwei Geschwister — das reichte vermutlich als ärztliche Diagnose um diese Art Erholungskur zu bekommen (Wir hatten Haus und Garten am Stadtrand, später fuhr ich noch zweimal , meine Geschwister ebenfalls, beide gesund, aber erst mit 10 Jahren).Nach meiner Rückkehr glaubte man mir meine Erlebnisse nicht (kam ja prima zensierte Post!) und bis vor kurzem war alles fest verschlossen in meinem Inneren, aber nie vergessen. Welch Chance, jetzt doch noch reden zu dürfen, ernstgenommen zu werden! Mein 7.Lebensjahr wurde zum Schalthebel in eine verängstigte Zukunft, nach diesem Aufenthalt hatte ich mein Grundvertrauen ins Leben, in meine Person, in meine Familie verloren und funktionierte nur für die Wünsche andere. Gehorsam und gute Leistungen waren in meinem Zuhause sehr erwünscht, doch der militärische Ton und manches Erlebnis im Kinderheim war so erschreckend, dass ich von Anfang an dicht gemacht haben muss. Ich erinnere kein Kind, kein Gesicht trotz der langen Zeit, aber meine Angstgefühle. Ich hörte die Stimme meiner Mutter innerlich, wie sie mich rief. Ich habe sehr viel geweint. Ich habe keine Erinnerung an die Räume des großen Hauses, wo ich z.B.geschlafen habe. Einen großen Essraum erinnere ich leicht, da es dort oft Pflaumenmus- und Schmalzbrote als einzige Mahlzeit gab, beide schmeckten mir furchtbar, mussten aber gegessen werden. Einmal lag ich tagsüber im Bett (ich weiß nicht, wie lange) und außer einer Schwester war keiner da. Ich zerschnitt Plastikhalme in gleiche Stücke und durfte sie dann als Kette auf einen Faden aufziehen. Ich erinnere auch keine Gesichter der Erwachsenen . Das verwirrt mich, macht mich stutzig. Seit ich gelesen habe, dass Kinder in den Heimen sediert wurden, also Schlaf- und/oder Beruhigungsmittel erhielten, vermute ich sehr stark, dass dies der Grund für mein totales Blackout ist. Bei der Rückkehr erschien mir meine Mutter in Sekundenbruchteilen wie eine fremde Person auf dem Bahnsteig. Nach dieser Fahrt entwickelte ich panische Angstzustände, wenn ich von der Familie getrennt sein musste, im Sportverein, auf Reisen, die ich allein bewältigen musste. Schließlich bekam ich Absencen, wo ich mitten im Satz wegen kurzer Bewusstlosigkeit stockte, und meine Augen sich nach oben wegdrehten. Ich musste zum Arzt, Untersuchungen und Tabletten. Schließlich setzte mit 10 Jahren völlig unerwartet und unaufgeklärt meine erste Menstruation ein. Auch hier reagierte mein Körper mit Krämpfen, wogegen ich erneut regelmäßig Tabletten nehmen musste. Mit 12 (!) Jahren wünschte ich mir einen Teddy und einen Puppenwagen, weil ich wohl das innere Gefühl hatte, nicht richtig Kind gewesen zu sein und es auf diese Weise vielleicht nochmals nachholen wollte ? Ich möchte unbedingt wissen, ob dieser Langzeitstress durch die wochenlangen Ängste, eine wochenlange Sedierung oder beides ursächlich mit diesen Kindheitsqualen zu tun hat. Erst jetzt stellt sich dieser Zusammenhang her. Mit 16 Jahren erlitt ich meinen ersten großen epileptischen Anfall und durfte in Folge keinen Führerschein machen, keinen Tropfen Alkohol trinken und Schwimmen nur unter Aufsicht. Erst seit letztem Jahr, nach zwei langen Therapien, schleiche ich die Medikamente aus. Durch lange psychotherapeutische Arbeit habe ich lernen dürfen, dass ich eigene Bedürfnisse habe, die ich kennenlernen und verantwortungsvoll zu erfüllen habe. Mein jahrelanges auf Perfektion ausgerichtetes Leben hatte nur gelernt, auf die Bedürfnisse anderer einzugehen, Konflikte zu vermeiden und wo das nicht ging, mit großen Ängsten, Anfällen oder Zwangshandlungen (Essen z.B.) zu reagieren. Mein beruflicher Weg und meine Beziehungsfähigkeit sind lange Leidensstrecken, die so nicht hätten verlaufen müssen. Es war ein langer Weg zu mir selbst und ich habe jetzt das Gefühl erfahren zu müssen, für meinen eigenen inneren Frieden, ob die Ursache meiner Krankheit mit den Katastrophen dieser “Kurbehandlung” in Bad Sachsa zusammenhängt. Schreibt mir gerne dazu.
Viele Grüße und alles Gute Geli