Anonym
Verschickungsheim: Haus vor dem Süntel, Hameln
Zeitraum (Jahr): 1969
Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: psychische Gewalt
Ich war schon 12 Jahre alt und nach damaliger ärztlicher Meinung zu dünn und zu blass. Ich lebte bei meiner Großmutter, die sicherlich einer sechswöchigen Erholungspause von mir nicht abgeneigt war. Somit ging es im November 1969 per Bus von Hamburg aus für sechs Wochen in das “Haus vor dem Süntel”. Im Vordergrund dieser “Kur” stand, dass wir teilnehmenden Kinder unbedingt Gewicht zulegen sollten. Dafür wurde zum Frühstück Schokoladen- oder Vanillesuppe gereicht. Das Mittagessen war alles andere als kindgerecht. Unvergessen bleiben mir Grünkohl mit Kochwurst. Da ich es nicht herunterbekam, musste ich vor dem Speisesaal stehen und warten, bis es dann die Beschimpfungen durch die Betreuerin gab. Mit 12 Jahren hatte ich ein Heimweh wie nie zuvor. Natürlich habe ich nach Hause geschrieben, dass es mir dort nicht gefiele und ich starkes Heimweh hätte. Daraufhin wurde ich belehrt, dass ich so etwas nicht zu schreiben hätte. Mein Brief ist auch nie zu Hause angekommen. Man konnte auch nichts heimlich nach Hause schreiben, da wir erst zwei Tage vor Abfahrt einmal in die Stadt Hameln durften.
Nach dem Mittagessen gab es immer einen verordneten Mittagsschlaf und alle zwei Tage wurden wir gewogen – nur damit wir Gewicht zulegten. Zum Wiegen, Duschen usw. immer angetreten in Reihe in Unterhosen. Das war mir mit 12 Jahren auch sehr unangenehm. Verwandte hatten mir Comics in die Kur geschickt. Diese wurden durch die Betreuerin einfach einkassiert mit der Begründung, sie seien nicht gut für mich. Ich vermutete, dass sie sie selbst lesen wollte. Es gab auch Lichtblicke. Geländespiele und Kreistänze und dabei kleine Kontakte mit den Mädchen sind zu diesem Aufenthalt meine guten Erinnerungen. Der hauptsächliche Terror dieser “gesundheitsfördernden” Kurmaßnahme lag aber in den ständigen Themen Essen und Gewichtszunahme. Der Appetit war mir dort schon ziemlich vergangen. Der krönende Abschluss fand dann am letzten Tag vor versammelten Kindern und Betreuern im Speisesaal statt. Hier wurde der Erfolgsbericht der Kur verlesen: Der vermeintlich “Erste” hatte in den sechs Wochen neun Kilogramm zugenommen. Dann ging es weiter abwärts mit dem zugewonnenen Gewicht. Der letzte Zunehmer war natürlich ich mit 300 Gramm. Kommentar der Heimleiterin: “Das ist so viel wie zwei Brötchen”. Mein Gott war mir das peinlich. Ich war dann sehr froh, wieder nach Hause zu kommen.
Dass es auch anders geht, konnte ich Anfang der 90er Jahre als Lehrkraft im “Kieler Kinderheim des DRK” in Wyk auf Föhr erfahren. Die Kinder wurden freundlich behandelt und es gab ein vielfältiges Freizeitangebot. Die Themen Essen und Gewicht gab es da für einige Kinder auch. Allerdings ging es hier nun wegen Übergewicht um das Abnehmen – ohne Terror.