…der vertraute Geruch der Niveacreme

Silvia Kröplien 

Verschickungsheim: Cuxhaven/Duhnen „Haus am Meer“/Kelleenhusen/Ostsee. / Westerland/Sylt

Zeitraum (Jahr): 1957 1961 o.62. 1964

Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: beides

Alles, was die vorigen Berichte beschreiben von schlechtem Essen bis
Schlägen als Strafe für was auch immer habe ich in den drei Verschickungen erlebt. Mit fünf Jahren die erste. An den eigentlichen Aufenthalt erinnere ich nur einzelne Szenen wie Teller in die Küche tragen, Milchsuppe und Griesbrei und das furchtbare Verlassensein. Trost spendete mir nur der vertraute Geruch der Niveacreme, die mir meine Mutter eingepackt hatte. Mittagsschlaf , still sein und letztlich brav sein – was anderes blieb einem nicht übrig mit fünf Jahren.
Das wirklich Schlimme war der dramatische Abschied am Bahnhof Altona im Zug. Plötzlich begriff ich, dass ich jetzt alleine mit den Fremden Tanten und Kindern wegfahren musste. Schreie wie am Spiess und wehre mich mit Händen Füßen. Vater steht hinter meiner Mutter und dippert, sie soll jetzt kommen – aber auch sie kann sich nicht trennen. Plötzlich fährt der Zug los und beide stürzen aus dem Abteil und springen auf die Gleise aus dem fahrenden Zug. Ab da hab ich keine Erinnerung mehr an den Aufenthalt dort. Die chaotische Szene mit dem Sprung vom Zug erzählte mir meine Mutter erst, als ich erwachsen war.
Vor zwei Jahren hatte ich dann aus scheinbar heiterem Hinmel eine schlimme Panikattacke während einer Zugfahrt in Hamburg, sodass ich den Krankenwagen rufen musste. Während der Fahrt überfiel mich das Bild des chaotischen Abschieds von damals und ich sehe mich ohnmächtig zu Boden fallen mit schrecklichen Todesängsten.
Im Krankenhaus alle Untersuchungen gemacht ohne Befund mit dem Hinweis darauf, dass es eine Panikattacke/Angststörung und Depression gewesen sein könnte……
Was genau der Trigger war, weiß ich nicht genau – ganz sicher aber weiß ich, dass man Kindern so etwas nicht antun darf !
Nach sechs Wochen erkannte ich meine Eltern nicht wieder – ich war sehr verwirrt
danach. Die ganze Familie mit Schwiegereltern stand da am Bahnsteig und ich erkannte dann meine Oma an der lauten Stimme und ihr erster Satz war: „Wie sieht sie denn aus, sie hat ja alles falsch herum an ! „ Sechs Wochen sind für ein kleines Kind eine äonenlange Zeit.

Meine zweite Erfahrung war schon mit neun Jahren etwas bewusster im Erleben.
In Kellenhusen war es eigentlich nicht schlimm im Sinne von Misshandlungen und Einschüchterungen o.ä.
Es gab nur so unendlich lange Gewaltmärsche auf dem Deich entlang in so eine unendliche Leere hinein. Es kam mir so furchtbar sinnlos vor, ich verlor jeglichen Orientierungssinn – und das ist bis heute so geblieben. Dazu – trotz aller Freundlichkeit der Betreuerinnen – kam dieses trostlose elende Verlassenheitsgefühl, was mich meistens beim Essen überfiel und es mir Angst und bange wurde, sodass ich kurz vor einem Ohnmachtsanfall stand. Die Tante sah mich bleich werden und ging mit mir aus dem Saal, war sehr bemüht, aber ich wusste nicht, was mit mir los war und sie letztlich auch nicht.
Ich erinnere mich auch an nette Kreis-und Volkstänze Mädchen und Jungs gemischt
– das waren Glücksmomente. Aber letztlich fühlte ich mich verloren und konnte mich nur daran orientieren, dass
ES bald vorbei sei. Keine Erinnerungen an die Rückfahrt und Ankunft, ausser dass ich den Anschluss in der Schule nur schwer wieder bekam. Sinnigerweise musste ich außerhalb der Ferien ins Kurheim …..
So geschehen auch bei der dritten Reise ins Ungewisse mit dann 12 Jahren.
Immerhin war ein etwas älteres Mädchen aus meinem Dorf auch im Zug, die mir aber aus Überlegenheit nicht zugetan war und mich dort auf Sylt regelmässig in Pfanne haute vor den anderen Mädchen.
Die Frauen dort waren burschikose Erscheinungen und es herrschte eine
kontrollierte Stimmung unter der Knute einer Art Flintenweib-Heimleitung, die wahrscheinlich aus der Nazizeit mit herübergeschwappt war.
Auch hier endlose Märsche am Strand, deren Sinn ich überhaupt nicht erfasste, ausser dass ich ES nur zu tun hatte.
Bastel- und Malnachmittage ganz schön, turnen und Ballspielen, und Anekdotenerzählungen vor den Mädchen von dem Flintenweib, welches sich immer toll vorkam und so versuchte, sich anzubiedern bei uns. Einmal verstieg ich mich, sie nachzuäffen und schon war es aus mit witzig und sie klatschte mir eine saftige Ohrfeige…..
Dann wieder kleine Theaterspiele und Singen im Chor. Merkwürdige ärztliche
Untersuchungen mit ganz nackt ausziehen vor dem Flintenweib, hinlegen auf die Liege, wo mir die Beine weit auseinander gespreizt wurden( ? )….
Dabei Getuschel zwischen Ärztin und Flintenweib – man selbst war nur ein Objekt für die, alles beklemmend und beschämend für mich. Briefe schreiben nach Hause : Irgendwann schrieb ich dann an meine Grosskusine, mit der Bitte
sie möge meinet Mutter ausrichten, mir doch endlich mal zu schreiben – womit ich mir gleich nach der Rückkehr einen wütenden Rüffel seitens meiner Mutter einfing. Nichts mit liebevoller Begrüßung und in den Arm nehmen. Grad aus dem Zug gestiegen wollte ich mich meinem Vater in die Arme werfen und er sagt nur:
„ Alter Indianer kennt keinen Schmerz“ !

So taumelte man dann in den Schulalltag zurück und versuchte, wieder Boden unter die Füsse zu bekommen.
Ich weiß nur heute, dass ich ab da immer das Gefühl hatte, ich „gehöre irgendwie nicht dazu!“
Oder so merkwürdige Momente von Realitätsverlust und Orientierungslosigkeit von einem Moment auf den anderen.
Z. B. während der Autofahrt weiss ich plötzlich nicht mehr, wo ich bin und wohin es geht. Das ist jetzt nach über sechzig Jahren zwar nicht mehr so, ich schreibe es aber diesen Erfahrungen im Heim zu.
Das Verlassensein war das Schlimmste.

Also liebe Leute da draussen, was können wir tun nach diesen Erlebnissen ?
Ich versuche, meinem inneren verletzten Kind immer wieder zu sagen, dass es keine Schuld hat und es im Geiste in den Arm zu nehmen und so lange zu warten, bis es den Trost annehmen kann.
Es dauert und es tut weh, zu sehen WIE LANGE es dauert ! Liebe Menschen da draussen, es gibt aber etwas in einem, was heil geblieben ist. Ein Fünkchen Liebe
ist noch da – den müssen wir hegen und pflegen und lieben wie ein kleines Baby…
Das Erlebte bleibt und lässt sich nicht weg wischen – aber der Funke bleibt auch, sonst könnten wir nicht leben.