Renate Langewiesche
Verschickungsheim: Herz-Jesu-Kloster, Nettersheim, Eifel
Zeitraum (Jahr): 1957, 4 Wochen
Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: beides
Ich war noch keine 5 Jahre alt, da wurde ich für 4 Wochen in das Herz-Jesu-Kloster geschickt. Weniger, weil ich eine Kur brauchte, aber meine Eltern wollten eine Kur machen und meine 9 Jahre ältere Schwester ihre Brieffreundin in England besuchen. Da man nicht wusste, wer sich um mich kümmern sollte, wurde ich, einem Ratschlag eines Arbeitskollegen meines Vaters folgend, in das Herz-Jesu-Kloster geschickt (obwohl wir evangelisch waren). Die Vorfreude während der Anfahrt aus Essen verflog schon ganz schnell. Natürlich kann ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Was ich aber noch weiß, sind tägliche Schläge und Beschimpfungen, wenn ich das für mich eklige Essen (verklumpte Milchsuppe, fettiges Fleisch) nicht essen wollte. Ich fühlte mich so ausgeliefert, hatte niemand (ausser einer netten, jüngeren Schwester, deren Einfluss begrenzt war), mit dem ich reden konnte, hatte immer nur Angst. Ich hatte immer gedacht, dass Schwestern nette Frauen sein müssten, aber ich hatte nur noch Angst, wenn ich sie nur sah. Als ich endlich wieder nach Hause durfte, war ich – wie man mir später erzählte – wie verwandelt. Einige Wochen habe ich nicht gesprochen.
Ich glaube, mein Urvertrauen in Menschen ist bei diesem Aufenthalt stark angegriffen worden. Mir war es immer wichtig, nie mehr ausgeliefert zu sein, auch nicht in einer Ehe oder als Mutter (Jahrg. 52, d.h. in meiner Zeit gab es kaum Kitas, und das Rollenbild war noch immer das der abhängigen Hausfrau).
Zum Glück währte dieses schreckliche, prägende Erlebnis nur 4 Wochen und blieb ein einzelner Vorgang. Aber auch heute, mit 68 Jahren, sind mir die Erlebnisse und die Angst noch vor Augen. Wie schrecklich für Verschickungskinder, die jahrelang ausgeliefert waren!