Es ist vorbei, jetzt bist du ja wieder hier

Britta 

Verschickungsheim: Scheidegg

Zeitraum (Jahr): 1966

Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: beides

Als 4jährige wurde ich wegen spastischer Bronchitis nach Scheidegg geschickt.
Wir nähen Names-Etiketten, weiß mit roter Schrift, in meine Kleidung.
Ich stehe mit meinen Eltern am Bahnsteig in Köln. Ich habe furchtbare Angst und klammere mich an meine Mutter. Als mein Vater mir einen Kuss zum Abschied geben will drehe ich mein Gesicht weg. Ich mache ihn für das Fortschicken verantwortlich.
In der “Anstalt” angekommen werden alle Mädchenkopftücher in einen großen großen Korb geworfen. Jedes Mädchen soll sich eines nehmen. Ich habe ein besonders schönes Tuch mit rosa Röschen, welches nun ein fremdes Mädchen trägt.
Ziemlich am Anfang mache ich nachts in mein Bett. Dafür werde ich im Schlafsaal von den Nonnen und Kindern verhöhnt. Mein Bettlaken wird nicht gewechselt. Auch meinen Schlüpfer muss ich tragen. Der ist durch den Urin hart und scheuert. Tage erinnert mich das schmutzige Bettlaken und der Schlüpfer an meine Untat. Ich weine mich immer in den Schlaf. Einem älteren Jungen geschieht das gleiche Malheur. Er muss sein Laken vom Bett abziehen und allen zeigen. Er wird schlimm geschimpft. Der Junge tut mir sehr leid. Ich fühle mit ihm. Seinen Schlafanzug und das Betttuch muss er selber in einem kleinen Waschbecken waschen.
Ich habe keinen Hunger. Trotzdem wird mir der ganze Teller mit vollen Löffeln hinein gezwungen und mit dem rauhen Daumen einer Nonne nach gestopft. Zusammen mit “Vitamintabletten” die bitter schmecken.
Es ist Frühling oder Frühsommer und ein Foto wird von mir gemacht. Ich muss mich vor einen blühenden Strauch stellen und mir wird ein kleiner Blumenstrauß in die Hand gedrückt. Das Bild ist für Deine Mutter. Lach doch mal. Später wird das schwarz weiß Foto als Postkarte beschrieben: Der lieben Mutti. Eine Nonne schreibt den Text. Das einzige Wort was ich als vierjährige schreiben kann ist Ute. So unterschreibe ich die Postkarte.

Es gibt ein großes Spielzimmer in einer der oberen Etagen. In einer Holzkiste finde ich ein kleines Holzflugzeug. Damit gehe ich auf den Balkon und werfe es in die Luft. Das Flugzeug landet in den Ästen eines gegenüberstehenden Baumes und bleibt hängen. Mir bleibt das Herz stehen. Eine Nonne packt mich am Arm. Sie schimpft mich aus. Ich würde anderen Kindern das Spielzeug wegnehmen. Nun kann niemand mit dem Flugzeug spielen. Du bist ganz böse. Ich werde in eine “Besenkammer” gesperrt. Die Kammer ist sehr klein und es ist eng. Ein Waschbecken mit tropfenden Wasserhahn, Metalleimer, Besen, Schrubber und grauschwarze Aufnehmer. In dieser dunklen Kammer, es riecht nach Bohnerwachs und faulen dreckigen Lappen verläuft eine Abwasserrohr in einer Ecke. Ich werde gegen das Rohr gedrückt und mir wird befohlen, das Rohr meinen Händen festzuhalten. Denn wenn ich es loslasse, so sagt die Nonne, kommen die Ratten und beißen mich. Die Tür wird zugeknallt und der Schlüssel umgedreht. Kein Licht, es ist dunkel. Ich weine so stark und habe so große Angst, dass ich fast umfalle. Aber ich muss mich ja festhalten.

Nach diesem Erlebnis erinnere ich mich an nichts mehr. Weder an die Tage, Wochen die noch folgten oder an Bestrafungen. Auch an die Heimreise und das Wiedersehen mit meinen Eltern kann ich mich nicht erinnern. Ich beiße danach meine Nägel blutig, kann nur noch mit Licht einschlafen, bin klaustrophobisch.

Ich erzähle meinen Eltern von den Erlebnissen. “Es ist vorbei, jetzt bist du ja wieder hier”.