Ich bin jetzt deine Mutter.

Anonym 

Verschickungsheim: Kloster Langweiler, Marienhöh, 55758 Lanweiler

Zeitraum (Jahr): 1976 oder 77

Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: psychische Gewalt

Epilog:
Mit 4 Jahren wurden mir Mandeln und Polypen entfernt. Dafür war ich 3 Wochen im Krankenhaus. Meine Mutter durfte mich an Werktagen (Mo-Fr) für jeweils eine Stunde besuchen. Das war eine der ersten traumatischen Erfahrungen mit Heimweh und Verlassensein in meinem Leben.

Kinderkur:
Im Jahr 1976 oder 1977 wurde ich für sechs Wochen ins Kloster Langweiler (Marienhöh, 55758 Lanweiler) zur Kinderkur verschickt. Ich war damals 5 oder 6 Jahre alt und mein Kinderarzt fand mich zu dünn. Eine Kur würde mich aufpäppeln und wäre eine gute Erholung, bevor ich in die Schule käme.

Meine Mutter meinte zwar, dass auch sie und ihre Schwestern als Kinder eher dünn waren, es also in der Familie liege, dass ich nicht allzuviel wiege. Jedoch erinnerte sie sich an ihre eigene Kinderlandverschickung nach Bayerisch Gmain, was sie als unheimlich schön empfunden und in Erinnerung behalten hatte. Daher stimmte sie zu – um mir etwas Gutes zu tun.

Ich erinnere mich an Listen, auf denen mein Gepäck vermerkt war, dass ich mitbringen sollte und dass meine Eltern eine Trinkflasche zum Umhängen besorgten, hunderte von Schildchen in jedes Wäschestück einnähten und ich so auf “die schöne Reise” vorbereitet wurde. In meiner Erinnerung stand ich dem Ganzen zu dem Zeitpunkt neutral gegenüber, also weder Vorfreude noch Angst.

Die Hinreise geschah mit der Bahn. Ich erinnere mich daran, mit mehreren Kindern in einem Abteil gesessen zu haben. Ich meine, dort saß auch eine Betreuungsperson. Bei der Hälfte der Fahrt bekam ich furchtbaren Durst. Ich sagte das und bekam als Antwort, dass ich meine Spucke sammeln solle und sie dann schlucke. Das würde gegen den Durst helfen. Hat nicht funktioniert. Nochmaliges Fragen nach einem Getränk wurde überhört.

Im Kurheim wurden wir in einem Randgebäude untergebracht. Hier wurden die “Kleinkindergruppen” betreut. Es war ein zweigeschossiger Flachbau mit einem abschüssigen Wiesengrundstück hinter dem Haus. Auf der Wiese verbrachten wir bei schönem Wetter die Nachmittagspause. Unsere Schlafzimmer, der Aufenthaltsraum und die Duschen/Toiletten befanden sich im ersten OG.. Meinen Schlafraum teilte ich mir mit mindestens drei anderen Kindern, ich erinnere mich jedoch nicht mehr genau. Direkt neben unserem Zimmer befand sich der Aufenthaltsraum, in die andere Richtung ging es zu den Toiletten.

Der Tagesablauf war fast jeden Tag der selbe. Wir wurden geweckt und die Betreuer (Nonnen und (?)Mädchen aus dem Dorf) legten uns die Kleidung heraus, während wir im Bad waren. Danach gingen wir in den Aufenthaltsraum, wo wir zusammen beten mussten. Wir wurden dazu um eine Marienfigur geschahrt und lernten verschiedene Mariengebete. Dann bekamen wir unser Frühstück, danach gingen ein oder zwei Mädchen mit uns Spazieren. Danach gab es Mittagessen und einen Mittagsschlaf. Nach dem Mittagsschlaf versammelten wir uns erneut um die Marienfigur, um zu beten. Danach gab es Streuselkuchen mit rotem Tee. Bei gutem Wetter schloss sich eine “Pause” auf dem Wiesengrundstück hinter dem Haus an. Bei schlechtem Wetter blieben wir im Aufenthaltsraum. Dort konnten wir entweder malen, mit Bauklötzen oder mit Stofftieren spielen. Als letztes das Abendessen, ein weiteres Gebet und danach das Zubettgehen.

Das alles war für mich ungewohnt und ich fühlte mich durchgehen sehr unwohl und alleine. Kleidung hatte ich mir zu Hause immer selber heraussuchen dürfen. Auch habe ich damals schon selber entschieden, ob ich Kleidung als dreckig ansehe und deshalb nicht noch einmal anziehen würde. Hier wurde das für mich bestimmt und ich durfte auch nicht widersprechen. Ich erinnere mich, dass ich mich manchmal für die fleckige Kleidung geschämt habe, in der ich nun herumlief.

Auch die Fingernägel wurden uns geschnitten. Das machte ich zu diesem Zeitpunkt zu Hause schon selber, da es weniger wehtat, als wenn es jemand für mich machte. Durfte ich nicht. Dafür erduldete ich jetzt Schmerzen, wenn das weniger feinfühlig geschah.

Auch habe ich mir meine Essensportionen immer selber genommen, da wir zu Hause die Abmachung hatten, dass wir lieber nachnehmen sollten, anstatt etwas übrig zu lassen. Hier wurden mir die Portionen vorgesetzt und ich musste sie aufessen. Das galt sowohl für die Menge als auch für des “was”. Die Portionen waren mir viel zu groß. Aber ich sollte ja zunehmen. Daher wurde mir während jeder Mahlzeit schlecht und ich hatte den Eindruck, ich bekomme nichts mehr hinein. Auch gab es immer wieder Speisen, die ich nicht mochte, z.B. abends die Scheiben Brot mit Teewurst. Fand ich vorher schon ekelig, danach habe ich sie gehasst: Haarige Pampe, die mich an Ohrschmalz erinnerte! Bis nicht alles aufgegessen war, durfte ich nicht aufstehen. Nach jeder Mahlzeit saßen also ein Häuflein heulender Kinder vor ihren Tellern. Wir wurden so lange beschimpft, bei wir fertig waren.

Die Mädchen aus dem Dorf haben vermutlich ihr Taschengeld aufgebessert. Jedenfalls hatten sie vermutlich keine pädagogische Ausbildung. Sie gingen den Nonnen zur Hand und nahmen uns zum Spazierengehen mit. Eines der Mädchen hat dabei immer Gruselgeschichten erzählt. Jedenfalls wurde ich immer verängstigter. Für ein Kind unverständliche Szenarien wie “ein Meteroid schlägt ein und die Erde kippt um” geisterten dann im meinem Kopf herum. Ich kann nicht mehr sagen, was genau ich gehört hatte und was ich mir vorstellte. Jedenfalls weinte ich mich seitdem aus Angst, dass wir vom Meteroiden getroffen würden, in den Schlaf.

Ein anderes Mädchen fand im Wald einen Salzblock, der als Leckstein für das Wild ausgelegt worden war. Sie erklärte uns, was das ist, brach einige Stückchen heraus und gab sie uns zum probieren. Wieder zu Hause, wurde sie dafür zuerst von den Nonnen ausgeschimpft, weil wir jetzt alle die Tollwut hätten. Dann wurde der Kurarzt gerufen, der das ebenfalls mit den Nonnen und dem Mädchen aufgeregt besprach und überlegte, was nun zu tun sei. Wir Kinder standen verängstigt daneben, alle haben geweint. Der Arzt entschied, dass wir alle zur Toilette gehen sollten, damit wir das Salz und die Erreger wieder ausscheiden. Ich konnte jedoch nicht und war so verzweifelt, weil ich dachte, dann muss ich sterben. Als ich nicht zu weinen aufhören konnte, wurde ich dafür gescholten. Ich versuchte zu erklären, wovor ich Angst habe, wurde aber nicht ernst genommen. So fürchtete ich mich in den folgenden Wochen, Tollwut zu bekommen und zu sterben.

Die Spaziergänge waren ansonsten langweilig und freudlos. Ich war meistens traurig, die Mädchen oft unfreundlich.

Ich hatte oft Heimweh, jedoch wurde jeder Kontakt nach Hause unterbunden. Als ich meine Mutter einmal besonders vermisste, saß ich schluchzend beim Mittagessen und bekam keinen Bissen herunter. Die Nonne, die uns beaufsichtigte, schimpfte, ich solle zu weinen aufhören und essen. Als ich das nicht sofort tat, wurde ich mit meinem Teller auf Klo gezerrt, wo ich den Rest der Mahlzeit verbringen musste. Irgendwann setzte sich die Nonne dann zu mir und fragte, warum ich weine. Ich sagte, weil ich meine Mama so sehr vermisse. Und sie sagte: “Ich bin jetzt deine Mutter.” Ich war fortan überzeugt, nie wieder nach Hause zu kommen.

Schlafengehe: Wir mussten uns mit dem Gesicht zur Wand drehen. Wer sich in Richtung Raum drehte, wurde ausgeschimpft. Das war für mich neu und ein Eingriff in meine Freiheit. Einige Kinder nässten ein (ich zum Glück nicht). Morgens wurden deren Matrazen zum Lüften auf den Flur gestellt – eine Blosstellung.

An einem Tag gab es einen Ausflug in einen Tierpark. Jedes Kind bekam ein Päckchen mit Tierfutter. Die Ziegen, die dort herumliefen waren daran gewöhnt. Einer Ziege ging es wohl nicht schnell genug. Jedenfalls biss sie mich in die Hand. Ich schrie. Daraufhin wurde ich ausgeschimpft und bekam das Futter abgenommen.

Einmal pro Woche wurden wir gewogen. Ich nahm jede Woche ein Kilo ab. Am Ende der Kur hatte ich Augenringe und sechs Kilo Gewicht verloren. Ich habe Vorher-/Nachher-Fotos, die mich immer noch erschrecken.

Der Sonntag war eine Abwechslung zum sonst (in meiner Erinnerung) immer gleichen Tagesablauf. Sonntags gingen wir nach dem Frühstück in die Klosterkapelle. Das war zwar auch langweilig und freudlos, aber es schimpfte niemand mit mir und ich musste auch nichts aufessen obwohl ich keinen Hunger hatte. In meiner Erinnerung waren die Kirchgänge die einzigen Lichtblicke. In der restlichen Zeit fühlte ich mich unwohler, unbehaglicher, trauriger, allein.

Auf der Rückfahrt bekamen wir einen Schokoriegel und unsere Trinkflasche mit Tee als Wegzehrung. Die Betreuerin verbot mir, den Rigel zu essen, weil ich auf der Hinfahrt ja so einen Durst bekommen hatte und sie das nicht noch einmal erleben wolle. So hatte ich auf der Rückfahrt Hunger.

Auf dem Bahnsteig wartete meine Familie. Als ich sie sah, fing ich an zu heulen und konnte mich nicht mehr beruhigen. Meine Eltern waren entsetzt mich so zu sehen. Ich wollte meine Mutter nicht mehr loslassen. Sie erzählt heute noch, dass ich in den Monaten danach nicht von ihrem Rockzipfel gewichen wäre.

Ich habe angefangen zu stottern. Ich habe die Ängste, die ich in der Kur entwickelt hatte, verinnerlicht. Besonders, wenn ich schlafen gehen sollte kamen die Ängste. Ich habe verzweifelt gebetet, so wie es uns die Nonnen beigebracht hatten. Wenn meine Eltern fragten, warum ich weine und nicht schlafen wollte, traute ich mich nicht von den Ängsten zu erzählen, weil ich “die Erde wird umkippen” nicht erklären konnte und auch die anderen difusen Ängste nicht. Ich sagte dann “Ich habe Bauchschmerzen”. Deshalb brauchten mich auch meine Eltern oft zum Arzt, weil sie nicht mehr weiterwussten.

Wenn wir abends ins Bett gebracht worden und meine Eltern noch eine Runde spazieren gingen, war es furchtbar. Ich habe geweint von dem Moment, in dem sich die Haustür schloss, bis zu dem, wo sie zurückkamen. Und ebenfalls exessiv gebetet. Meine Angst war nie, sie könnten meinen Bruder und mich mutwillig verlassen, sondern ich habe mir unzählige Dinge ausgemalt, wie sie verunglücken und nicht zurückkommen können. Ich hatte immer die Angst, sie könnten unterwegs sterben.

Mein Selbstbewustsein war geschrumpft. Ich hatte zwar immer Freunde, jedoch wurde ich mit zunehmendem Alter zum Aussenseiter in der Schule. Widersprach mir jemand, begann ich an mir zu zweifeln. Ich musste Mobbingerfahrungen machen. Ich wurde mit 12 Jahren von einem Freund meiner Eltern missbraucht. Ich hatte als Jugendliche Depressionen. Ich hatte als Heranwachsende und junge Erwachsene unzählige problematische Beziehungen und Freundschaften. Ich hatte Kontakt mit Drogen und mit Sekten.

Inzwischen habe ich die dritte Psychotherapie hinter mir, entdecke jedoch immer wieder Baustellen, die ich direkt oder indirekt auf die Traumata in der Kindheit und Jugend zurückführe. Wäre ich nicht in Kur gefahren, wäre mein Leben anders verlaufen, da bin ich sicher.