Ich habe damals einen Blick in die Hölle geworfen

Andreas 

Verschickungsheim: Adolfinenheim

Zeitraum (Jahr): 1983

Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: psychische Gewalt

Ich habe lange überlegt, ob ich öffentlich darüber schreibe aber ich denke, es gehört ein bisschen zu meiner Aufarbeitung.

In sämtlichen Berichten wurde immer nur bis in die 70er erzählt allerdings hat man die Ausläufer bis in die 80er zu spüren bekommen. Allerdings muss ich sagen, die Qual war zuvor wesentlich schlimmer, wie ich in Berichten gesehen habe.

Ich war selbst 1983 mit 8 Jahren 6 Wochen auf der Insel Borkum im Adolfinenheim untergebracht.

Ich habe über das Thema mit meinen Eltern gesprochen und ein paar Freunde habe ich da auch eingeweiht, allerdings habe ich immer nur bruchstückhaft darüber gesprochen.
Ich habe in den letzten Jahren in Foren recherchiert und mit Leidensgenossen gesprochen um zu erfahren, ob mich meine Erinnerungen nicht doch trüben aber ich habe von allen die gleichen Erfahrungen berichtet bekommen.

Nach nunmehr 38 Jahren habe ich mich dazu entschieden, alles soweit aufzuarbeiten, was damals passiert ist und besuche demnächst das erste Mal diese Insel wieder.

Wir waren 6 Wochen dort, getrennt von den Eltern. Es waren dort Zustände, die sich keiner ausmalen mag.
Die Erzieherinnen dort, waren herzlos, streng und haben nur mit Bestrafung gearbeitet.
Das Essen war grausam und man musste so lange sitzen bleiben, bis man aufgegessen hatte und wenn es den ganzen Nachmittag, Abend etc. gedauert hat.
Wir mussten Mittagsschlaf halten und wer Heimweh hatte, wurde bestraft. Wie oft habe ich im Bett gelegen und geweint, weil ich nach Hause wollte. Ich wurde zur Strafe in den Aufenthaltsraum gesetzt und musste den Rest der Nacht auf einem Holzstuhl sitzen.
Unsere Gruppenleiterin, weiter “Alte Hexe” genannt, patrouillierte nachts durch die Gänge, um zu schauen, ob auch alle schlafen und im Bett blieben.
Briefe durften wir nicht selbst schreiben, obwohl ich schon schreiben konnte. Die Inhalte haben sich immer wiederholt, mir gefällt es dort, es ist wunderschön und was wir alles erlebt haben.
Erhaltene Briefe wurden vorweg gelesen, Pakete geöffnet und dort enthaltene Süßigkeiten an die Allgemeinheit verteilt.

In den vielen Berichten, die ich gesehen habe, wurden vor meiner Zeit Kinder dort misshandelt und geschlagen. Ich kann mich daran nicht erinnern, ob die das mit uns auch gemacht haben. Ich glaube es zwar nicht oder ich habe es verdrängt.

Bei uns im Zimmer hatten wir einen, der fast jede Nacht ins Bett gemacht hat, wofür er jedes Mal bestraft wurde. Ein mal war es mehr als nur Flüssigkeit. Die alte Hexe, die dort das Regiment geführt hat, hatte ihn an einem Bein aus dem Zimmer gezerrt und er wurde von zwei Betreuerinnen eiskalt abgeduscht. Wir Kinder standen alle drum herum und haben ihn ausgelacht. Heute glaube ich, dass es auch so gewollt war, um ihm das Gefühl zu vermitteln, wie peinlich das ist.
Der arme Kerl hat geschrien wie am Spieß, als die ihn eiskalt abgeduscht hatten. Ich höre das Geschrei immer noch.
Ich fürchte, der hat sein Leben lang ein Trauma. Ich allerdings auch.

Heutzutage habe ich das Gefühl, ich habe damals einen Blick in die Hölle geworfen.

Nach 38 Jahren werde ich ende Juni das erste Mal wieder zum Ort des Schreckens zurückkehren. Einerseits ist mir etwas mulmig, weil ich angst habe, dass Verdrängtes zum vor scheinen kommt andererseits bin ich aber auch bereit, mich dem zu stellen und denke, ich werde einen Abschluss bzw. meinen Seelenfrieden finden.

Ich weiß, das dass Heim nicht mehr existiert. Es ist vor ein paar Jahren abgebrannt. Ein Schelm der Böses dabei denkt 
Einerseits schade, ich hätte es gern noch mal gesehen andererseits bin ich froh, dass dieser Ort des Schreckens nicht mehr da ist.

Ich habe einige Jahre danach erst meinen Eltern von dem erzählen können. Habe ich so lange gebraucht aus Scham? Oder weil ich angst hatte, keiner würde mir glauben? Ich weiß es nicht.

Warum mache ich das jetzt öffentlich? Um denen Mut zu geben, die ggf´s das Gleiche erlebt haben und sich selbst nicht trauen, darüber zu sprechen und um ihnen zu sagen, JA es war so, das habt ihr euch nicht eingebildet.

Ein ARD Bericht beschreibt die ganze Geschichte der Verschickungskinder, ich habe “nur” die Ausläufer mitbekommen und es war lange nicht so schlimm, wie es meine Vorgänger abbekommen haben, zumindest glaube ich das oder ich habe einiges verdrängt.