Anonym
Verschickungsheim: “KINDERKURHEIM DER INNEREN MISSION” – “2941 LANGEOOG/NORDSEEBAD”
Zeitraum (Jahr): Mitte der Sechzigerjahre
Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: beides
Durch das aktuell verstärkt in den Medien behandelteThema fasse ich nun, wenn auch recht verspätet, Mut und äußere mich auch zu meinen Erfahrungen. Heute bin ich 65 Jahre alt. Ich bin zweimal zur jeweils sechswöchigen Kindererholung verschickt worden. Einmal nach Onstmettingen, ich mag damals ungefähr sechs Jahre als gewesen sein und einmal nach Langeoog. An Onstmettingen habe ich kaum Erinnerungen, außer, dass wir dort frei spielen durften. Es gab Schildkröten, die wir gebadet haben. Ich glaube, dort ging es mir gut. Allerdings habe ich eine infektiöse Hauterkrankung mit nach Hause gebracht, die nach Ansicht des Kinderarztes auf mangelnde Hygiene zurück zu führen war. Als ich nach Langeoog kam dürfte ich ungefähr 10 Jahre alt gewesen sein. Ich wurde wegen Neurodermitis an die Nordsee verschickt. In dem Haus herrschte ein strenges, nicht gerade kinderfreundliches Klima. Disziplinierungen und Zwang zum Essen gehörten zur Tagesordnung. Ich selbst habe kein Essen erbrochen, wusste aber von Kindern, die Erbrochenes aufessen mussten. Briefe und Päckchen wurden geöffnet, die Kinder durften keine Briefe sondern nur Postkarten schreiben, die vorm Versenden von den “Tanten” bzw. der Heimleiterin zensiert wurden, persönliche Dinge wurden kontrolliert. Das Haus galt als Kurheim für verschiedene Erkrankungen, u.a. Asthma und Hauterkrankungen. Zur Abhärtung mussten wir frühmorgens barfuß durch eiskaltes taunasses Gras laufen und wurden kalt abgeduscht. Vor den Schlafräumen mit mehreren Betten patrouillierte bei stets geöffneten Zimmertüren eine Aufsicht den Flur auf und ab und kontrollierte, ob die Kinder still in den Betten lagen. Jedes geringste Geräusch wurde sanktioniert. Da ich vor allem mittags nicht und abends nicht sofort einschlafen konnte, verbrachte ich regelmäßig die Mittagsruhe sowie Nächte nur im Nachthemd auf der Schuhbank im Flur. (Den Geruch habe ich heute noch in der Nase.) Dazu genügte es, statt mit geschlossenen mit geöffneten Augen im Bett zu liegen. Lesen war verboten, reden auch flüstern sowieso. Die Kinder wurden regelmäßig gewogen. Wer abgenommen hatte, dem wurde unterstellt, er habe Wasser getrunken. So geschah es auch mir, obwohl das nicht der Fall war. Die Behauptungen der Heimleiterin waren absolut. Jeglicher auch noch so geringe “Ungehorsam” wurde bestraft und es wurde damit gedroht, die Eltern zu benachrichtigen, dass man nach Hause geschickt würde, was den meisten Kindern Angst machte. Schließlich waren viele Familien dankbar, dass ihre Kinder in den Genuss einer solchen Kur kamen, und die Erziehungsmethoden in den Elternhäusern waren damals ebenfalls von Gehorsam und Strafe geprägt. Jedenfalls bin ich nicht gesund geworden, wurde zum Arzt gebracht, habe abgenommen, konnte nicht schlafen und kam kränker heim als ich hingekommen bin. Ob das, was ich in dem Haus auf Langeoog erlebt habe nun als Misshandlung zu werten ist, weiß ich nicht. Aus heutiger Sicht haben auf alle Fälle Kinderrechtsverletzungen stattgefunden und die Einschüchterungen würde ich schon in die Nähe psychischer Gewalt rücken wollen. Ich bin zumindest mein Leben lang der Ansicht gewesen, selbst verschuldet in die Lage geraten zu sein und habe nie darüber gesprochen, merke aber jetzt, wie sehr mich diese Erinnerungen belasten, wobei ich vieles sicher verdrängt habe, denn in dem Alter müsste ich mich an viel mehr Details erinnern. Einige Betroffene schreiben von Medikamenten. Ich habe auch Medikamente bekommen, aber ich war ja auch krank und fand das nicht ungewöhnlich. Ich bin sehr dankbar, die Erfahrungen von anderen lesen zu dürfen, zu erfahren, dass ich nicht allein bin damit, mir das nicht alles einbilde und dass dieses dunkle Kapitel der Nachkriegszeit nun aufgearbeitet wird.