Jutta Sternberg
Verschickungsheim: Bad Sassendorf
Zeitraum (Jahr): August/September 1959
Welche Arten von Misshandlungen/Missbrauch gab es?: beides
Ich wurde 1959 im August für sechs Wochen zur Kur geschickt, da ich leber- und gallenkrank war. Ich durfte selbst wählen, wohin ich wollte. Entweder in den Schwarzwald oder nach Bad Sassendorf. Aufgrund von Märchen stellte ich mir den Schwarzwald so vor, wie er in Hänsel und Gretel vorkommt: riesig groß und entsetzlich dunkel. Ich hatte fürchterliche Angst davor, und so entschied ich mich für Bad Sassendorf. Es war unterm Strich die Hölle für mich. Aufgrund meiner Krankheit vertrug ich nur bestimmte Lebensmittel. Das Interessierte die „Tanten“ aber nicht. Ich musste alles essen, was auf den Tisch kam. Wenn ich mich in meinen Teller übergab, musste ich das Erbrochene zusammen mit dem Rest der Mittag- oder Abendbrotmalzeit aufessen.
Jeden Abend mussten einige Betten aufgebaut werden, weil es sonst tagsüber zu eng im Schlafsaal war. Ich half einen Abend einem
Jungen beim Zusammenbau seines Bettes. Dabei ging das kaputt. Zur Strafe wurde ich eingesperrt.
Überhaupt wurden wir Kinder oft eingesperrt oder mussten uns mit dem Gesicht zur Wand vor eine solche stellen, wenn wir uns nicht ‚brav‘ verhielten. Ich wurde oft in einen von außen sehr gut einsehbaren Raum gesperrt. Ich habe mich dann immer furchtbar geschämt und versucht, mich z. B. hinter einem
Kasperletheater zu verstecken, das in diesem Raum stand, damit mich die anderen Kinder nicht sehen konnten.
An dem Tag, als ich sechs wurde, war die Kur beendet und ich fuhr wieder nach Hause. Ich wurde alleine in einen Zug gesetzt und mir wurde gesagt, wo ich in Wuppertal aussteigen musste.
Meinen Eltern fiel auf, dass ich sehr verängstigt war. Aber wie es in den 50er Jahren üblich war, glaubten sie mir nicht. Im Gegenteil, sie nutzten meine Angst aus, um mich mit der Drohung „Wenn Du nicht lieb bist, schicken wir dich wieder nach Sassendorf“, unter Druck zu setzen.
Seitdem habe ich nie wieder eine Kur antreten können.