Von: Doris Grothe, geb. Wörle
Zeitraum der Verschickung
1969/1970
Meine Geschichte:
Ich hatte bereits vor einigen Wochen spontan meine Geschichte zu meinem Kuraufenthalt als Kind geschickt. Das Thema lässt mich jedoch nicht mehr los, so dass ich nochmals intensiv geforscht und vieles gelesen habe. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, dass vor dem Kinderkurheim ein Bogen aus Walrosszähnen oder Wahlknochen aufgestellt war. So konnte ich dann über die Internetrecherche doch noch den Namen des Kinderkurheims herausfinden. Es war der Marienhof in Wyk auf Föhr.
Ich bin Jahrgang 1963 und wurde 1969/1970 zusammen mit meinem vier Jahren älteren Bruder für 6 Wochen dorthin verschickt. Wir kommen aus Flensburg, was jetzt nicht eine wirklich lange Anreise nach sich zog. Dort angekommen, wurden mein Bruder und ich sofort getrennt und ich durfte ihn die ganzen 6 Wochen weder sehen noch sprechen. Das war schrecklich, da ich mich total unglücklich und allein gefühlt habe und mich allein durch das Sehen meines großen Bruders getröstet gefühlt hätte.
Es waren unglaublich viele Kinder zu der Zeit im Heim, es war laut und unübersichtlich. In dieser Menge war es mir nicht gelungen meinen Bruder zu entdecken. Es konnte auch sein, dass er nicht zeitgleich mit mir zum Essen kam. Ich kann mich nicht mehr an sehr vieles erinnern, es war jedoch ein sehr strenges Reglement in diesem Heim. Ich weiß noch, dass ich ein von meinem Vater selbst genähtes Lederkleid mit Reißverschluss trug. Aufgrund der Kälte hatte ich einen dicken Pullover drunter und der Reißverschluss begann sich dadurch immer zu öffnen. Die „Tanten“ wurden mit Fräulein …angesprochen. „Mein“ Fräulein Engel sah meine Kleidungsnot und kommentierte es vor allen anderen Kindern am Tisch wie folgt: „Du bist zu dick, du passt ja nicht mehr in dein Kleid. Du bekommst nur noch die Hälfte zu essen und keinen Nachtisch.“ Dies blieb auch so für den gesamten Kurzeitraum. Öffentliche Demütigung mit der Folge, dass ich von den Tischgenossinen anschließend permanent gehänselt wurde. Seitdem verzichte ich bis heute auf Nachtisch, es ist mir zuwider. Waschen/duschen mussten wir gemeinsam in einem großen, gekachelten und kalten Waschraum, wo wir alle mit Wasser aus einem Gartenschlauch wie Vieh abgespritzt wurden. Das Wasser war nicht sehr warm. Haarewaschen war nur kopfüber erlaubt. Dabei lief mir jedoch ständig Wasser in den Mund und ich drohte zu ersticken. Es gab jedoch kein Erbamen. Ich hatte vor jedem nächsten Duschtag eine Höllenangst. Selbst heute bekomme ich Stress, wenn mir Wasser in den Mund läuft. Päckchen der Eltern mit Süßigkeiten wurden von den Fräuleins geöffnet und gesichtet. Süßigkeiten wurden konfisziert und an die Allgemeinheit verteilt, wurde uns jedenfalls so erzählt. Das berüchtigte Briefe bzw. Kartenschreiben…. Immer saß ein Fräulein neben uns und achtete darauf, dass wir nichts schlechtes über den Kuraufenhalt schrieben. So wurde sichergestellt, dass keine negativen Nachrichten nach außen gelangten. Ungehorsam (wobei uns Kindern nie klar war, was denn in den Augen der Fräuleins ungehorsam war) wurden dahingehend „bestraft“, dass das Kind z.B. nicht an Ausflügen teilnehmen durfte und im Schlafsaal bleiben musste. Jetzt, wo ich gerade am Schreiben bin fällt mir auf, dass ich mich an keine einzige Aktion, kein Angebot oder an einen Ausflug erinnern kann. Ich weiß nicht ob wir gemalt oder gebastelt haben, was und wo wir gespielt haben. Ich kann mich nicht an weitere Strafen bzw. Toilettenverbote erinnern, aber der Mensch ist ja ein Profi im Verdrängen.
Was hat das alles mit mir gemacht?
Leider konnte ich es weder mit meinen Eltern oder meinem Bruder jemals aufarbeiten, da diese Thematik erst jetzt aufkam und alle genannten Familienmitglieder nicht mehr leben. Ich war damals nur grottenglücklich aus den Fängen des Heimes zu kommen und wieder zu Hause sein zu können. Unsere Eltern wollten für meinen Bruder und mich eigentlich immer nur das Beste. Sie wussten ja nicht was uns dort erwartete.
Ich weiß jedoch, dass ich nach Rückkehr aus der Kur nichts berichtete und nur auf Fragen meiner Eltern unverbindliche Auskunft gab. Ich glaube, ich wollte nicht, dass sie davon erfuhren wie schrecklich es dort war. Sie hofften mit Sicherheit darauf, dass es uns dort gut gefallen hatte (wie wir ja in unseren zensierten Briefen schreiben mussten). Hätte ich jetzt was anderes erzählt, hätte ich als Lügnerin dagestanden und mir wäre vielleicht nicht geglaubt worden. Ich bin seitdem sehr verschlossen und ein Einzelgänger geworden, was sich bis heute gehalten hat. Ich war in der Folge sehr angepasst und versuchte unauffällig zu bleiben. Mein Vater beschrieb mir gegenüber -als ich als erwachsene Frau mit ihm über „uns „Kinder sprach- dass ich als Kind eine Mimose war, ich hyperempfindlich auf alles reagierte und immer sehr schnell weinte, Ich hatte ein grundlegendes Misstrauen gegenüber jeden Erwachsenen entwickelt, konnten deren Absichten, auch wenn sie noch so nett gemeint gewesen waren, nie vertrauen. Dann in der Schule (Gymnasium) provozierte ich jeden Lehrer, da ich dessen Autorität in Frage stellte.
Heute respektiere ich Menschen nur aufgrund ihrer Kompetenzen, nicht aufgrund deren Position oder deren Amtes. Als Kurkind musste ich die „Fräuleins“ respektieren, auch wenn sie sich gemein, streng oder schikanös verhielten. Selbst als 6/7 jähriges Kind hatte ich wahrgenommen, dass diese Fräuleins mehr mit sich selbst beschäftigt waren als mit uns Kindern. Wir sowie unsere Sorgen waren denen völlig egal. Es gab keine Herzlichkeit, kein Herumalbern, keinen Spaß. Nur Uhrzeiten- und Regeleinhaltung.
In Kenntnis vieler Aufarbeitungsergebnisse bin ich heute entsetzt, dass mein Bruder und ich in dem Glauben dorthin verschickt wurden, dass es uns gesundheitlich gut tun würde. Aber wir statt dessen nur ein Teil einer großen Verschickungsindustrie waren, an denen irgendwelche Un-Menschen auf Kosten von zerstörten, verletzten und verängstigten Kinderseelen Profit gezogen haben. Und das Ganze offiziell mit dem Segen der Jugendämter, Krankenkassen und der Bundesregierung.
Gab es denn da nie eine Heimaufsicht oder andere Instanzen, die die Zustände in diesen Einrichtungen schon zu der damaligen Zeit prüften? Es ist ein Skandal und der Aufschrei ist noch viel zu verhalten.